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Merkmale eines Top-Spielers |
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von David Hertzman (knave@idirect.com)
ÜBERSETZT VON TIMO MÜLLER
Vor kurzem habe ich damit begonnen, Partien für Spieler mit hohen Punktzahlen im
JDPR-System zu leiten. Als privilegierter Beobachter dieser Spiele hatte ich die
Gelegenheit, den Top-Spielern unseres Hobbys bei der Arbeit zuzusehen, und ich habe einige
Verhaltensweisen bemerkt, die meiner Meinung nach erwähnenswert sind. Diese Merkmale sind
natürlich nicht unbedingt allgemeingültig, aber ich denke, daß die meisten Spieler noch
etwas von diesen Partien lernen können.
1. ZUVIEL KOMMUNIKATION GIBT ES NICHT
In meinen Top-Spielen ist die Korrespondenz unter den Spielern grob geschätzt zwanzig-
bis dreißigmal so hoch wie bei normalen Spielen. Jeder Spieler hat jedem Mitspieler
mindestens einmal pro Zug geschrieben. Es gab keine Ausnahmen. Die Menge der Korrespondenz
war absolut erstaunlich. Ich weiß noch, wie ich einmal über das Wochenende keine E-Mails
abgerufen hatte und dann ungefähr 50 Mails von einem der Spiele in der Mailbox hatte.
(Für die, die so etwas nicht kennen: der Spielleiter kann Kopien aller privaten
Nachrichten der Spieler untereinander erhalten, wenn er das so einstellt. Nach diesem
Wochehende habe ich schnell gelernt, die "alle Nachrichten"-Option
auszuschalten, wenn ich für einige Tage nicht da war.) Es hatte keine Bedeutung, ob der
Spieler gerade gut dastand oder nicht. Bündnisstrukturen waren unwichtig, alle Spieler
bekamen Post, in jedem Zug.
Schweigen hilft niemals. Die meisten Spieler setzen Schweigen mit ausgesprochener
Feindlichkeit gleich. Ich habe herausgefunden, daß es wirklich einen direkten
Zusammenhang zwischen der Menge der verschickten Post und dem möglichen Erfolg gibt.
Stille Spieler werden unweigerlich eliminiert. Ich weiß noch, wie ich einmal ein Spiel
spielte, in dem der russische Spieler mir nachher erzählte, seine "Strategie"
sei gewesen, im ersten Jahr keine einzige Mail zu verschicken. Er fragte sich auch, warum
er in E-Mail-Spielen niemals Erfolg zu haben schien.
Natürlich hat nicht jeder von uns die Zeit, in jedem Zug dreißig Mails zu verschicken,
aber wenn du die Chance hast, Post zu verschicken, dann tu es. Schlecht ist das niemals.
2. QUALITÄT IST NICHT GLEICH QUANTITÄT
Nicht alle Mails sind gleich aufgebaut. Eine Mail, die nur die Worte "hi, wie geht's
dir" enthält ist zwar immer noch besser als gar nichts, aber noch keine richtige
Botschaft. Jede Botschaft, die von den Top-Spielern verschickt wurde, war speziell auf den
individuellen Mitspieler zugeschnitten. Post wurde geschrieben, um einem Zweck zu dienen,
egal ob es ein diplomatischer oder taktischer Zweck war. Ein englischer Spieler, der
Österreich schrieb, bezog sich zum Beispiel auf die österreichische Situation und
versuchte zu zeigen, warum die beste Strategie für Österreich wäre, Deutschland
anzugreifen :) ...
3. KONKRET IST BESSER ALS ALLGEMEIN
Die Botschaften waren selten vage gehalten. Ich habe fast nie eine Botschaft gelesen nach
dem Motto "laß uns Rußland angreifen". Fast jede Botschaft enthielt mindestens
einen konkreten Zugvorschlag, wenn nicht gleich eine Reihe von Vorschlägen für die
nächsten zwei Jahre. Wenn der Türke Österreich überreden wollte, Rußland anzugreifen,
würde die Nachricht etwa so aussehen:
"Hallo, mein österreichischer Verbündeter!
Die russischen Horden haben begonnen, stärker zu werden und die Sicherheit unserer beiden
Nationen zu bedrohen. Ich schlage vor, daß wir sofort handeln, um die Gefahr, die vom
imperialistischen Zaren ausgeht, einzudämmen. Ich bin bereit, folgende Befehle zu geben:
F Bla S Bul-Rum, A Bul-Rum, A Smy-Ank
Trotzdem denke ich nicht, daß die gerade beschriebenen Züge ausreichen werden, um
Rußland wirklich zu treffen, deshalb brauche ich deine Hilfe. Ich hatte da so eine Idee:
wenn du ziehen würdest...
A Gal-Ukr, A Vie-Gal, A Bud S Bul-Rum
Dann könnten wir sicher sein, mindestens ein russisches VZ zu erobern. Im folgenden Jahr
würde ich diese Armeen dazu benutzen, die Unterstützung aus Moskau zu kappen, so daß du
Warschau einnehmen könntest. Das sind nur meine ersten Gedanken zum Thema, hast du
irgendwelche anderen Ideen oder Pläne?
Mit freundlichen Grüßen
Die Türkei"
Die oben gezeigte Nachricht war konkret, sie zeigte die genauen Zugbefehle, die der Türke
von Österreich wollte. Sie gab auch Gründe an, warum es im österreichischen Interesse
war, sich dem Angriff der Türkei auf die weißen Armeen anzuschließen. Ziemlich konkrete
Pläne wurden auch für die zukünftigen Ereignisse gemacht, aber, weil ja zwischen jedem
Zug viele Botschaften verschickt werden, würden diese noch in späteren Botschaften
ausgehandelt werden. Nun vergleicht diese Botschaft mit einer anderen (erfundenen)
Botschaft, die dieselbe Situation betrifft:
"Hallo Österreich!
Der russische Spieler hat noch nicht viel mit mir geredet, und ich denke, wir sollten ihn
angreifen. Wenn wir schnell genug angreifen, sollten wir es schaffen, Rußland zu
zerstören, bevor es stark werden kann! Dann könnten wir unsere Aufmerksamkeit den
westlichen Mächten zuwenden und sie hoffentlich schon angreifen, bevor sie in unsere
Richtung vorstoßen können. Ich denke, ein Bündnis zwischen unseren Mächten wäre
ziemlich stark, und ich hoffe, daß du das genauso siehst.
Die Türkei"
Ein österreichischer Spieler, der diese Nachricht erhält, wäre vielleicht inhaltlich
derselben Meinung, aber ein österreichisch-türkisches Bündnis würde noch einige
Kommunikation benötigen, um konkretisiert zu werden. Wenn die Spieler Österreichs und
der Türkei dann auch noch in verschiedenen Zeitzonen leben, könnte dieser Zeitverlust
desaströs sein. Außerdem muß der Österreicher noch nicht unbedingt von der oben
genannten Botschaft überzeugt sein. Meint es der Türke ernst? Hat er genug über das
Bündnis nachgedacht? In der ersten Nachricht hatte der türkische Spieler offensichtlich
alle Möglichkeiten durchdacht, damit das österreichisch-türkische Bündnis
funktionieren würde. In der zweiten Nachricht sieht es so aus, als ob der Türke nur
versuchen würde, eine Lücke zu füllen.
4. ES GIBT KEINE "ANDERE SEITE" DES SPIELPLANS
Diplomacy besteht nicht aus getrennten Systemen. Es gibt keinen "Westteil" des
Spielplans, der nichts mir dem "Ostteil" zu tun hat. Die Top-Spieler
beobachteten ständig alle Bewegungen auf dem ganzen Spielplan, um die Auswirkungen auf
ihre eigenen Kräfte zu beurteilen. Ein russischer Spieler bekam Wind von einem geplanten
Angriff auf Frankreich und entschied, daß dessen Durchführung nicht in seinem Interesse
läge. Er begann eine große Mail-Kampagne, um einen solchen Angriff zu entmutigen, und
ging sogar so weit, extra einige seiner Einheiten in den Norden zu verlegen, um den
englisch-deutschen Angriff zu verlangsamen.
Alle Top-Spieler scheinen sofort zu erkennen, welche Auswirkungen Ereignisse in entfernten
Gebieten auf ihre eigene Situation haben werden. Während ein großer Teil dieser
Fähigkeit durch Erfahrung erworben wird (und ich könnte viele Artikel über die
Zusammenhänge, die innerhalb einer Diplomacy-Partie existieren, schreiben), scheint der
große Trick zu sein, sich genug Zeit zu nehmen, um selbst in die Haut jedes Mitspielers
zu schlüpfen und zu versuchen, das wahrscheinliche Verhalten dieses Spielers in naher und
ferner Zukunft vorherzusagen.
5. ES GIBT KEINE FESTEN BÜNDNISSE
Die Bündnisstrukturen in allen meinen Top-Spielen waren sehr fließend. Das soll nicht
heißen, daß es keine Bündnisse über viele Jahre gibt oder daß Stabs sehr populär
sind. Trotzdem stimmen die Spieler darin überein, daß die Mächte zwar oft kurzzeitig
zusammenarbeiten, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen, daß es aber trotzdem keine festen
Bündnisse gibt. In einem Top-Spiel schließen die Spieler Bündnisse ausschließlich für
persönliche Gewinne. Alle Bündnisse können scheitern, und alle Top-Spieler versuchen
ständig, die Gedanken ihrer Bündnispartner abzuschätzen. Und, was noch wichtiger ist,
die Top-Spieler sind auch ständig auf der Suche nach neuen Verbündeten unter ihren
Feinden, und sie können sich auch einen Seitenwechsel vorstellen.
Carebear-Bündnisse [in denen die Partner unter allen Umständen zusammenhalten] gibt es
in den Top-Spielen nicht. Ein Carebear-Spieler ist ein schlechter Spieler. (Ich sollte
anmerken, daß das in Diplomacy-Kreisen schon seit vielen Jahren diskutiert wird, und ich
maße mir nicht an, eine endgültige entscheidende Instanz zu sein. Ich will nur sagen,
daß es definitiv einen Zusammenhang zwischen den Fähigkeiten eines Spielers und seiner
Neigung, Carebear-Bündnisse zu vermeiden, gibt.)
6. PASSIVE VERTEIDIGUNG IST KEINE VERTEIDIGUNG
Ich habe einen sehr interessanten taktischen Punkt bemerkt. Die Einheiten der Top-Spieler
stehen niemals still. Es ist egal, ob sie gerade angreifen oder verteidigen, die Befehle
sind immer Zugbefehle. Kein Spieler hat sich jemals zurückgelehnt und einfache
Unterstützungsbefehle gegeben. Unterstützen ist eine passive Verteidigung; man
überläßt die Initiative seinem Gegner. Das beste, was man dabei erwarten kann, ist, den
Status Quo zu halten. Außerdem verliert man die Möglichkeit, seinen Gegner zu
überraschen, er weiß genau, wo man seine Einheiten zu jeder Zeit stehen haben wird.
Dagegen kann der verteidigende Spieler, wenn die Einheiten sich bewegen, einen
glücklichen Durchbruch schaffen und eine Schwachstelle in der Angriffsformation des
Gegners entdecken. Indem sie ständig bewegt werden, führen die Einheiten immer andere
Züge aus. Der Gegner ist gezwungen, die Züge zu erraten, und dabei liegt er oft daneben!
(Nur eine kleinere Richtigstellung: was ich gerade beschrieben habe, könnte etwas unklar
sein. Eine Einheit, die andere Einheiten bei Zügen unterstützt, ist nicht passiv,
sondern ein Teil des aktiven Zuges, den diese Einheiten machen. Im Allgemeinen gilt aber
trotzdem: je mehr Einheiten sich bewegen, desto besser ist die Verteidigung.)
7. DAS SPIEL ENDET ERST MIT DER EROBERUNG DES LETZTEN VZ
Das muß man eigentlich nicht erwähnen. Top-Spieler geben niemals auf. Sie schreiben
Nachrichten und planen Angriffe, bis sie ihr letztes VZ verlieren. Eine Macht steht
niemals völlig ohne Hoffnung da. Es gibt natürlich einige Fälle, in denen nur eine geringe
Chance besteht, zu gewinnen oder auch nur zu überleben, aber die Top-Spieler lehnen sich
nie zurück und lassen sich selbst eliminieren.
(In der Tat hat der schlechte Spieler unseres Hobbys die genau entgegengesetzte
Philosophie. Er neigt dazu, recht viele Spiele zu beginnen, und dann aufzugeben, sobald es
hart auf hart kommt. Die Punktzahlen, die dabei herauskommen, sind kein Zufall. Man muß
sich schon anstrengen, um so niedrige Punktzahlen so erreichen.)
8. EIN DRAW IST KEIN SIEG
Ich dachte eigentlich, daß man das ebenfalls nicht erwähnen muß, aber es scheint,
als ob dies nicht der Fall wäre. Wenn ein Top-Spieler eine Chance auf den Alleinsieg hat,
ergreift er sie. Die einzige Situation, in der ein Draw für einen Top-Spieler akzeptabel
ist, ist die, in der ein Sieg nicht mehr möglich ist. Die Neigung, einen Dreier-Draw zu
akzeptieren, ist ein typisches Verhaltensmuster von Anfängern, das in Spielen auf
höherem Niveau verschwindet.
9. DIPLOMACY IST NUR EIN SPIEL
Die Top-Spieler sind alle faire Sportsmänner. In fast jedem Diplomacy-Spiel verlieren die
meisten der Mitspieler. Ein Sieg ist aufregend, aber eine Niederlage bedeutet nicht das
Ende der Welt. Ich habe in keinem meiner Top-Spiele eine Beleidigung erlebt, die keinen
taktischen Zweck hatte. Die Top-Spieler sind höflich, wenn sie gewinnen, und nobel, wenn
sie verlieren.
10. FAZIT
Schreib viele Mails, und schreib sie konkret. Gib niemals auf, halte deine Einheiten in
Bewegung, und sei freundlich, wenn du den Mitspielern schreibst. Hintergehe die anderen,
bevor sie dich hintergehen, und erhol dich schnelll, wenn du hintergangen wirst. Spiele
auf Alleinsiege, und nimm an meinen Top-Spielen teil. Es gibt kein besseres Spiel.